Kindesmisshandlung endet nicht mit der Tat
Immer wieder erreichen den Deutschen Kinderverein e.V. Briefe von Menschen, die über Missbrauchserfahrungen berichten. „Oft berühren und bewegen uns diese Schicksale“, sagt Rainer Rettinger, Geschäftsführer des Vereins. „Diese Schilderungen motivieren uns, uns weiter für einen Kinderschutz in Deutschland einzusetzen, der wirklich Kinder schützt.“ Wie Kinderschutz immer wieder versagt, zeigen auch die Schilderungen einer 25-Jährigen. Der Vater Sexualstraftäter, die Mutter suchtkrank und gewalttätig, wuchs sie mit ihren drei Geschwistern völlig vernachlässigt in einem Messie-Haushalt auf.
Spätestens mit der Einschulung, so die junge Frau heute, hätte etwas passieren müssen: „Ich stank, hatte nie Unterrichtsmaterial weil kein Geld da war, blaue Flecken.“ Lehrer, Eltern von Freunden – niemand reagierte. Die Mutter machte mehrere Entziehungskuren, die Kinder waren dann in Pflegefamilien untergebracht – kamen jedoch immer wieder zurück zur Mutter. „Sie schlug uns mit Gegenständen, hatte in unserer Anwesenheit lauthals Sex im Elternschlafzimmer, ließ sich von uns mit Drinks im Schlafzimmer bedienen. Ich trug wochenlang die gleiche Kleidung, da sie keine Wäsche machte“, schildert die Frau ihren Alltag. In der Schule wurde sie gemobbt, ausgegrenzt und ignoriert. Erst als sie 12 Jahre alt war, wurde auf Drängen aus dem Familienkreis das Jugendamt eingeschaltet.
Auch nach fünf Jahren Therapie und heute als junge Erwachsene kann sie nicht mit ihrer Vergangenheit abschließen. „Meine Mutter hat nie mit rechtlichen Konsequenzen rechnen müssen, obwohl sie vier Kinder nachhaltig geschädigt hat“, schreibt sie. Ihr Bruder lebt nach mehreren Suizidversuchen auf der Straße.
Heute hat sie sich entschieden, dass alles nicht umsonst durchgemacht zu haben. Sie hat sich entschlossen, zu helfen, für andere da zu sein, ihre Lebenserfahrung zu teilen. „Ich will zeigen, dass man etwas aus sich machen kann, egal wer einem Steine in den Weg legt.“ Als einzige der Geschwister hat sie das Fachabi geschafft und absolviert eine Ausbildung zur Pflegekraft. Sie ist überzeugt: Irgendetwas wird kommen im Leben, für das es sich gelohnt hat, all das durchzustehen.
„Missbrauchserfahrungen im Kindes- und Jugendalter prägen das Opfer fürs ganze Leben“, erklärt Rainer Rettinger. Schilderungen wie diese helfen ihm, Schwachstellen im System des Kinderschutzes zu erkennen und das Schweigen rund um das Thema zu brechen. „Je mehr Menschen ihre Erfahrungen teilen, umso aufmerksamer kann unsere Gesellschaft auf das Thema reagieren“, so Rettinger. Wir müssen die oftmals fatalen Auswirkungen und traumatischen Erfahrungen schutzloser Opfer in den Blick rücken.