Die schutzlosen Kinder
Wo bleiben die Kinder im Kinderschutz?
Man könnte verzweifeln. Jeden Tag. Staufen, Lügde, Bergisch-Gladbach, Münster. Man könnte die Liste endlos fortsetzen, die vom Leid der Kinder berichtet. Gewalt an Kindern, die man sich kaum vorstellen kann. „Vier erwachsene Männer vergehen sich an zwei kleinen Jungs, wechselseitig und aufs Schlimmste. Es werden Gegenstände benutzt, Sie können es sich nicht vorstellen“, berichtete Kriminalhauptkommissar Joachim Poll über den neuen Missbrauchsfall in Münster. Nein, man will es sich nicht vorstellen, und dennoch müssen wir uns damit auseinandersetzen. Man darf nicht wegsehen, es ignorieren, leugnen oder gar bagatellisieren. Und doch wird es getan, selbst von Fachleuten. So verweigern Mitarbeiter des Jugendamtes Hameln-Pyrmont vor dem Landtag NRW zum Fall Lügde die Aussage. So viel zum Thema „lückenlose Aufklärung“, ein beliebter Satz von Landräten, Politikern und Kinderschützern. Wie aber soll man dies den Kindern erklären, die unendliches Leid erleben mussten? Warum, werden sie später fragen, wolltet ihr nicht aussagen? Oder: Warum habt ihr uns nicht geholfen? Warum habt ihr nicht mit uns geredet? Warum habt ihr unsere Signale nicht gesehen, ja, übersehen? Warum wolltet ihr es nicht wahrhaben?
Der Kinderschutz in Deutschland versagt. Er repräsentiert, so scheint es, nicht mehr die Kinder, die es zu schützen gilt. Es mag überzogen klingen, ist aber bittere Realität: In unserem Land scheint man eher die Eltern zu schützen. Familien werden mit Hilfen zur Erziehung überschüttet, man identifiziert sich mit den Problemen von Vater und Mutter und ihren schweren Lebenskrisen. Das Kind hingegen „verschwindet“ in dieser Hilfe und wird nicht mehr gesehen, es wird übersehen. Oft wird es erst gesehen, wenn es, wie Kevin, tot und zusammengezwängt im Kühlschrank gefunden wird. Wo ist also das Wächteramt, das mutig und entschlossen Kinder in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt?
Oft wird den Aussagen der Kinder nicht geglaubt, sie werden selbst vor den Familiengerichten nicht gehört, sie werden überhört. Milde gegenüber den Eltern, so der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Martin Janning, bedeutet in Fällen von Kindesmisshandlung, schwerer Vernachlässigung und sexueller Ausbeutung Härte gegenüber den Kindern. Wo sind die Familienrichter, die den Kinderschutz vor Elternrecht stellen? Wo sind die familiengerichtlichen Sachverständigen, die sich in die innere Welt des Kindes hineindenken?
So wird von Kindern einer Einrichtung für traumatisierte Kinder berichtet, dass sie früher bei ihren Eltern aus der Toilette trinken mussten, weil sie sonst verdurstet wären. Es gab kein Waschbecken. Oder dass Kinder von ihren eigenen Eltern gezwungen wurden, Kot zu essen. Oder dass dem Kind, nachdem es einkotet hatte, die dreckige Hose über den Kopf gezogen wurde. Oder es wird von einem Kind berichtet, das im Zimmer allein gelassen wurde. Die Türklinke wurde abmontiert, die Heizung ausgestellt. Oder von einem Kind, das Tapeten aß und nicht wusste, ob jemand wiederkommt. Oft zeigen sich in solchen Fällen Eltern dem Jugendamt gegenüber kooperativ, man glaubt ihnen und sieht das Leid der Kinder nicht. Tatsächlich passieren solch grausame Fälle oft unter der Aufsicht der Jugendämter, die wiederum unter keiner Fachaufsicht stehen.
Singen nicht alle gerne das Lied „Kinder sind unsere Zukunft“? Nein, sind sie nicht. Wenn wir weiter so arrogant agieren, wenn wir ignorieren und nichts tun, verspielen wir die Zukunft unserer Kinder und ihren Schutz.
Man könnte verzweifeln. Jeden Tag.
Der Deutsche Kinderverein e.V. fordert Konsequenzen:
- Klare und systematische staatliche Wahrnehmung des verfassungsrechtlich verankerten staatlichen Wächteramts für den Kinderschutz und gegenüber Kindeswohlgefährdung
- Abkehr von der elternzentrierten Praxis im Kinderschutz. Ins Zentrum allen Handelns, das Kinder schützen soll, gehört das Kindeswohl, das vorrangig zu berücksichtigen ist: An Jugendämtern, bei der Familienhilfe, bei gerichtlichen Entscheidungen zu Sorgerecht, Umgangsrecht und Aufenthaltsbestimmungsrecht.
- Die im Reformpaket des Familienministeriums im Juli 2020 angekündigte Fortbildungspflicht für Familienrichterinnen und Familienrichter sowie für Verfahrensbeistände muss ohne jede Verzögerung in die Praxis übersetzt werden.
- Für alle Minderjährigen muss eine individuelle und geschützte Anhörung bei Jugendämtern und Familiengerichten gewährleistet sein. Kinder müssen vor Gericht stets angehört, ihr Recht auf einen im Kinderschutz ausgebildeten Verfahrensbeistand ausnahmslos durchgesetzt werden.
- Eine Fachaufsicht für Jugendämter muss bundeseinheitliche Standards für die Ämter erarbeiten, orientiert am Prinzip best practice: Was am besten funktioniert, muss überall die Regel sein. Diese Standards müssen flächendeckend implementiert werden.
- An allen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche müssen Kinderrechte und Kinderschutz klar und direkt kommuniziert werden. Kinder müssen wissen, was Erwachsene dürfen und was nicht. Sie müssen wissen, wo es Hilfe gibt. Lehr- und Erziehungspersonal muss geschult und sensibilisiert werden für das Erkennen möglicher Betroffener.
- In jedem Bundesland muss ein „Unabhängiger Kinderschutz-Beauftragter mit Schwerpunkt Sexuelle Gewalt“ eingesetzt werden. Der Beauftragte und ein ihm zugeordnetes Team sollten bestehende Strukturen und Verfahren im Kinderschutz kritisch im Blick haben.
- Überall dort, wo Kinderschutz zu lesen ist, sollte auch universitär ausgebildeter Kinderschutz zu finden sein. Die Politik ist gefordert, für die akademische Qualifikation aller im Kinderschutz tätigen Professionellen zu sorgen.
Rainer Rettinger
Geschäftsführung