Die filmische Umsetzung der Kurzgeschichte von Thorsten Laatsch lässt, glaube ich, niemanden völlig kalt. Das wäre wohl aber auch alles andere als beabsichtigt. Im Sinne der Macher war es natürlich absolut gewollt, eine größtmögliche Wirkung zu erzielen. Auf- und wachzurütteln, gegen das Wegsehen, für das Hinschauen auf möglichen Kindesmissbrauch in seinem Umfeld. Ein gut gemeinter Appell – der aber deutlich übers Ziel hinausgeschossen ist; denn er erzielt auch Wirkung in andere Richtungen. Schauen wir also genauer hin.

Inhalt: Die computeranimierten Szenen zu Beginn des Kurzfilms lassen vermuten, dass es sich bei Thema und Handlung des folgenden Kurzfilms um sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener handelt. Dabei werden in den jeweiligen Szenen die Frauen entweder als machtlos – weil physisch dem gewalttätigen Mann unterlegen -, kooperativ agierend oder achselzuckend resignierend skizziert. Nach jeder kurzen Episode wird entweder ein fliegender Löwenzahnschirm, eine Feder oder ein Blatt vom Wind an den Stamm einer alten Eiche geweht und färbt diese Stelle blutrot. Dem Baum fließt anschließend eine Träne aus seiner augenförmig dargestellten Rinde. Was in den ersten zwei  Filmminuten – quasi als Trailer im Kurzfilm – ohne Worte durch moderne Animationsfilmtechnik, passender Musikuntermalung ohne Dialoge, oder Stimme aus dem Off gelingt, nämlich den Zuschauer sublim, suggestiv und spannend einen fast hypnotischen Bann zu ziehen, kippt sofort als ein Sprecher (Sven Martinek) überzogen dramatisch den Filmtitel ankündigt. Und dient von da an als Sprachrohr für den als menschenähnliches Wesen dargestellten Baum. Dabei beginnt der Film schnell die zunächst angenehm intensive Behutsamkeit einzubüßen. Ab diesem Punkt beginnt er sich ebenso als reißerisch wie unangenehm plakativ zu erweisen. Die Handlung soll einen zunehmend dramatischeren Sog bekommen, eskaliert aber einfach nur noch.
 

Suggestiv, klischeehaft, vulgär

Die Stimme aus dem Off artikuliert von nun an die Beobachtungen und Gedanken der alten Eiche. Bereits zu Beginn befremdet dieses Stilmittel in seiner vulgären Konnotation: „Wie es mich anwidert zu beobachten wie dieses ekelhafte Überbleibsel eines Menschen (…)“. Was man zunächst für einen sprachlichen Ausrutscher hält, spielt sich leider ein: „(…) wie er mehrmals am Tag aus seinem verfallenen Haus hier in den Garten kommt um seine stinkenden Zigaretten zu rauchen, um danach noch in irgendeine verwilderte Ecke seines Beets zu urinieren.“ „(…) immer in derselben ranzigen Jogginghose (…).“ Was soll uns das in diesem Kontext – außer klischeebehaftete Vorurteile bedienen zu wollen – sagen? Spätestens von diesem Punkt an ist man bereits geneigt nicht mehr hinsehen und -hören zu wollen. Ultimativ wird es mit der Beschreibung „(…) Schmerbauch, ungewaschen unrasiert, ungepflegt.“ dann noch expliziter und plakativer zugleich, denn: die letzten drei Worte sind zusätzlich hinter dem animierten Protagonisten zusätzlich auch noch graffitiartig zu lesen. Der Zuschauer weiß – mit der Nase drauf gestoßen – von da an nun wirklich ganz genau, wer hier der widerliche Übeltäter ist. Die Krux: Es ist ja hinlänglich bekannt, dass Täter(-innen!) in Kindesmissbrauchsfällen keineswegs immer in verfallenen Häusern wohnen und dreckige Jogginghosen (die ja wohl arbeitslos verbrachte Zeit auf der Couch suggerieren sollen) anhaben, sondern oftmals der nette, seriöse Nachbar. Familienvater mit gutbezahltem Job, im schicken Einfamilienhaus in gutbürgerlichem Ambiente in „geordneten Verhältnissen“ lebend.

 

Sprachlich daneben

„Ich stehe hier Tag für Tag wie angewurzelt – (eine wohl eher ungewollt komische Beschreibung eines Baumes – und beobachte wie die jungen Dinger (…)“ – für Missbrauchsopfer eine absolut fragwürdige Formulierung – …durch seine Tür geschleppt werden.“

 

Die falsche Botschaft

Die Eiche verfällt zunehmend in wütende Raserei und beschließt mithilfe eines Sturms (namens Xaver aus dem Jahr 2013: „Xaver hat Wind von meinem Vorhaben bekommen“) clever und selbstaufopfernd seine Hilflosigkeit angesichts des schreienden Unrechts zu beenden. Sich langsam zu entwurzeln, im Sturm umzufallen und dabei den Protagonisten zu erschlagen, so der Plan. Sein Sprecher redet sich derweilen – von zunehmenden Windgeräuschen dramatisch untermalt – dazu passend in Rage: „(…) So unsagbar zornig, dass es mich heute endlich zum Handeln zwingen wird. Ich muss nur den richtigen Zeitpunkt auswählen…“Heute ist endlich der Tag, an dem ich so handle wie ihr viel öfter handeln solltet!“ Wir sollen also seinem Beispiel folgen: Es ist es absolut nicht verwunderlich, dass so eine zweifelhafte Botschaft auch als Aufruf zur Gewalt und Selbst(Lynch-)justiz verstanden werden kann. Auch wenn das von den Machern negiert wird.

Als dann am Schluss der Baum sein Vorhaben in die Tat umsetzt, auf den Täter fällt und ihn somit erschlägt, kommentiert dann die – jetzt geradezu befriedigt klingende – Stimme aus dem Off dies so: „Du hast es nicht anders verdient, alter Mann!“ Und Du hast nicht mit mir gerechnet!“ Zu guter Letzt folgt dann noch: „Ich war ein Baum. Eine Eiche. Doch jetzt zersägt mich und wärmt euch nochmal an mir. Denn das war meine letzte Tat.“ Als ultimative – kryptische – Botschaft ist dann noch zu lesen: „Die Aufmerksamkeit ist das Gedächtnis Eurer Herzen. Seht daher niemals weg!“. Letzteres hätte völlig gereicht am Ende. Apropos: mehr als 136.000 Aufrufe auf Youtube hat der Film inzwischen. Als gleich sichtbare Bewertung registriert man mehr als 9186 Daumen rauf gegenüber 101 Daumen runter. Also etwa 100:1.  Ist „Schrei der Bäume“ – nun ein aufrüttelnder Appell zum Hinschauen, Aufruf zur Selbstjustiz – oder gar beides? In rechten Kreisen kam und kommt der Film jedenfalls überaus gut an. Ob nicht beabsichtigt oder fahrlässig in Kauf genommen, die Wirkung des Films zeigt sich allein in Youtube-Kommentaren wie beispielsweise diesem von C.P.: „Lasst uns handeln wie die deutsche Eiche! Herzlichen Dank!“  Das ist einfach zu viel der Botschaft – und des Dankes.

Fazit: Man hat sich sehr bemüht. Im Sinne der guten Sache. Aber leider unbeholfen, plakativ und aus dem Ruder gelaufen. Der Zuschauer wird – sprachlich fragwürdig und zuweilen grenzwertig – suggestiv ständig mit der Nase auf das, was sich da letztendlich an brachialem Showdown anbahnen soll, gestoßen. Impliziert mit der Botschaft, dass richtig und gerecht – also nachahmenswert? – agiert wird. Klischeehaft, weder stimmig noch durchdacht am Ende. Denn: riskante Konsequenzen wurden nicht gesehen oder ausgeblendet. Man hätte sich einen externen Berater bei der Deli Creative Collective-Produktion und Regisseur Michael Reissinger gewünscht.

Im Film „Schrei der Bäume“ ist es nur ein Baum der so handelt. Hoffentlich bleibt es auch dabei.

Rudi Grande, ehem. Leiter des Kommunalen Kinos der Stadt Bottrop