Hohe Dunkelziffer bei Kindeswohlgefährdungen im Lockdown –
Sorgen der Kinderschützer bestätigen sich
Mehrere Studien belegen eine Zunahme der Gewalt gegen Kinder während des Corona-Lockdowns. Nach Ergebnissen einer Untersuchung der TU München wurden während der Pandemie 6,5 Prozent der Kinder aller Haushalte gewalttätig bestraft – deutlich mehr als zuvor. Gleichzeitig wurden Jugendämtern und Kinderschutzambulanzen weniger Kinderschutzverdachtsfälle gemeldet. Dies deutet auf eine hohe Dunkelziffer bei Kindeswohlgefährdungen im Lockdown.
Nach den aktuellen Zahlen der Jugendämter wurden im April 2020, als erstmals Kitas und Schulen geschlossen waren, nur 674 Fälle von Schulen gemeldet. Das ist ein Rückgang um mehr als 50% gegenüber April 2019 (1.435 Fälle). Ein ähnliches Bild zeichnet eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, die untersuchte, wie viele Kindeswohlgefährdungen in deutschlandweit 159 Kinderschutzgruppen und – ambulanzen festgestellt wurden. In den Ambulanzen ist ein Rückgang von 15 Prozent zu verzeichnen, im stationären Bereich sogar um 20 Prozent im Vergleich zu den Monaten März und April 2019. Zugleich zeigte die COPSY Studie aus Hamburg, wie drastisch sich durch die Pandemie Stress und Aggression in Familien erhöht und das psychische Befinden der Kinder und Jugendlichen verschlechtert haben. Fachleute hatten vor dem ersten Corona-Lockdown im Jahr 2020 davor gewarnt, dass ein Teil der Kinderschutzfälle durch die Schul- und Kitaschließungen unentdeckt bleiben könnte.
Auch der Deutsche Kinderverein hatte am 17. März 2020 in einer offiziellen Pressemitteilung gefordert: „Lehrer und Lehrerinnen sowie Kita-Mitarbeiter kennen oft die Situation von Familien, in denen Kinder potenziell gefährdet sind. Sie müssen jetzt von der Jugendhilfe aktiv angehört werden. Diese braucht Konzepte zur aufsuchenden Arbeit in Familien, zugleich müssen die ohnehin schon am Limit arbeitenden Jugendämter personell verstärkt werden, denn: Wenn gefährdete Kinder für viele Wochen durch Kita- und Schulschließungen von der Außenwelt abgeschnitten sind, muss unbedingt der Umgang mit Familien aufrechterhalten werden, in denen aus einer Eltern-Kind-Beziehung eine Täter-Opfer-Beziehung werden kann.“
Am 28. März 2020 verfassten die Kinderschutzexpertinnen Prof. Dr. Maud Zitelmann und Prof. Dr. Carola Berneiser, beide von der Frankfurt University of Applied Sciences, sowie Prof. Dr. Kathinka Beckmann von der Hochschule Konstanz einen Appell, in dem sie ihre Sorge über die Situation gefährdeter Kinder und Jugendlicher gleich zu Beginn des ersten Lock Down unter Corona öffentlich zum Ausdruck brachten. Sie forderten, die im Kinderschutz tätigen Fachkräfte als systemrelevant anzuerkennen und die bestehenden Strukturen rasch auszubauen. Es solle sichergestellt werden, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendamt und ambulanten Diensten den Umgang mit gefährdeten Familien aufrechterhalten. Der Aufruf wurde von 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst (BAG ASD) hatte den Appell jedoch als Kritik gewertet und sich dagegen gewandt: „Offensichtlich muss die Arbeit der rund 15.000 Fachkräfte in den Allgemeinen Sozialen Diensten skandalisiert werden, damit ein Appell seine erforderliche mediale Bedeutung gewinnt.“
Wie ernst zu nehmen die frühzeitigen Warnungen waren, spiegelt sich nun in den Befunden der Studien zum Kinderschutz in der Pandemie der TU München und der Universitätsmedizin Hamburg- Eppendorf. Ebenso gibt es seit Beginn der Pandemie auch Belege für eine deutliche Zunahme von sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Internet (Presseportal des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs).
Ein rascher Ausbau der schon vor der Pandemie unzureichend ausgestatten Jugendhilfe und ein enger Schulterschluss mit Kitas und Schulen wäre zwingend erforderlich gewesen. Nach wie vor sind folgende Maßnahmen zwingend erforderlich: eine deutliche Verringerung der Fallbelastung sowie eine bessere Qualifikation im Kinderschutz und eine angemessene Sachausstattung der in den Jugendämtern beschäftigten Fachkräfte. Dies sicherzustellen, ist tatsächlich noch dringender als zuvor, um zumindest jetzt jenen Kindern und Jugendlichen Achtsamkeit, Schutz und Hilfe zukommen zu lassen, deren Leid im Schatten der Pandemie-Maßnahmen verborgen blieb.