Ein Beitrag im HIRSCHBERG-Magazin, ND Christsein. Heute.
Missbrauch in der katholischen Kirche. Viele strukturelle Mängel im System sind ausgemacht, sie bedürfen nicht immer wieder der neuen Benennung, sondern endlich der Veränderung. Es darf und kann keine absolute Absolution geben. Ein Priester, Bischof, Kardinal oder Papst muss sich nicht nur vor Gott rechtfertigen, sondern vor allem vor den Opfern. Vor den Erwachsenen, die sexuelle Gewalt durch Repräsentanten der Kirche erlebten, und vor den Kindern, die sexuelle Übergriffe auch künftig erleben, wo immer der Schutz von Wiederholungstätern und der Eigenschutz der Institution Kirche dem Schutz der Kinder vorgezogen werden.
Damit wären wir beim Betroffenenrat. Dessen Bilanz fällt nüchtern aus, der mit Hoffnung begonnene Prozess am „eckigen Tisch“ stockt. Verbindliche und einheitliche Standards fehlen und machen eine unabhängige Aufarbeitung nahezu unmöglich. Betroffene werden nicht angemessen entschädigt und unabhängig begleitet. Anstatt die so wertvolle beratende Arbeit der Betroffenen zu stärken und ihre Forderungen zur Orientierung zu nehmen, wird ihr Engagement eher instrumentalisiert. Eine weitere Form des Missbrauchs.
Was macht die evangelische Kirche? Sie fährt, um es mit der nautischen Redewendung zu beschreiben, dem großen Schiff katholische Kirche im Kielwasser hinterher und begibt sich in Deckung. Bieten lassen sollte sich dies die katholische Kirche nicht. Sie sollte klar und deutlich aussprechen, dass auch die evangelische Kirche sich „ihren Missbrauchsskandalen“ stellen sollte. Noch lange ist man nicht dort, wo mittlerweile viele Bistümer angekommen sind. Bis Ende 2023 will die evangelische Kirche die „Gesamtanalyse evangelischer Strukturen und systemischer Bedingungen, die sexualisierte Gewalt begünstigen und ihre Aufarbeitung erschweren“ untersuchen lassen. Die Studie koordiniert ein Junior-Professor der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster.
Damit ist die EKD deutlich langsamer als die katholische Kirche, die bereits 2018 eine Studie vorgelegt hat. Von einer erneuten, unabhängigen Prüfung aller bekannten Fälle mit dem Ziel, das Versagen der Kirche und das Leid der Betroffenen zu Lebzeiten anzuerkennen und ihnen zumindest eine finanzielle Entschädigung anzubieten, die über Almosen hinausgeht, ist keine Rede. Stattdessen geht es erneut um abstrakte Strukturen und einen 11-Punkte-Plan, der von der Kirche ohne Beteiligung der Opfer aufgestellt und nun selbst „abgehakt“ wird. Christlich ist all dies nicht.
Als Außenstehender fragt man sich: Was haben die Kirchen als Institutionen gelernt? Welche Konsequenzen haben sie aus der treffenden Analyse gezogen, die schon vor einem Jahrzehnt die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung veröffentlichte? „Institutionen haben eine Tendenz, Kartelle des Schweigens zu begünstigen und strukturell zu etablieren“, heißt es hier, dies gelte auch für die Kirchen. Bewusste Machenschaften werden durch unbewusste Gruppenprozesse forciert: „Der existenzielle Wunsch des Menschen, von anderen anerkannt zu werden und zu einer Gruppe zu gehö-ren, lässt ihn wesentliche Aspekte seiner Idealvorstellungen auf die Gruppe übertragen, der er sich zugehörig fühlt. Werden von Mitgliedern der Gruppe Verbrechen begangen, kommt es zu einem Zusammenbruch dieser Idealvorstellungen. Dann besteht die Neigung, das Geschehene zu verdrängen oder zu verleugnen, wegzuschauen, es nicht wissen zu wollen oder es gar zu rechtfertigen. Dem kommt auch die Angst des Menschen entgegen, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden, was zumindest in seiner Vorstellung unweigerlich passieren würde, wenn er versuchte, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Diese Dynamik haben wir bei den jüngsten Fällen sexueller Gewalt in der Kirche wie in Internaten exemplarisch vor Augen geführt bekommen. Dabei ging es immer darum, die vermeintlichen Ideale der jeweiligen Gruppe zu verteidigen und zu schützen – um jeden Preis. Dadurch wurden die Opfer ein weiteres Mal angegriffen, geschädigt und in ihrem Glauben an die Verlässlichkeit von Beziehungen erneut zutiefst erschüttert. Zudem erleiden hierbei auch die Ideale der Institution schweren Schaden.“
Die Frage wiederholt sich: Was haben die Kirchen aus solchen Einsichten gelernt? Von einem aufgeklärten Umgang sind beide großen christlichen Kirchen aus Sicht des Opferschutzes noch weit entfernt.
Und der Staat? Straftaten bleiben ungeahndet, der Schutz künftiger Opfer wird der Kirche überantwortet, keine Beschlagnahmung von Akten, keine Vernehmung der Opferzeugen, stattdessen breitet er den Mantel der Verjährung über die Machenschaften der Institutionen. Nicht die Wahrheit, nicht der Schutz und die Entschädigung der Opfer stehen an erster Stelle, sondern Rechte der Täter, Eigeninteressen der Institutionen und eine nicht einmal an Bedingungen der Aufklärung gebundene Subvention der Kirchen mit den Steuergeldern der Bürger (520 Millionen Euro im Jahr 2018).
Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Machenschaften zum Schutz von Tätern gehört das eigenständige Steuer-, Straf- und Arbeitsrecht der Kirchen vom Staat auf den Prüfstand gestellt. Wie legitimiert sich diese strafverfolgungsfreie Zone, dieser Staat im Staat, wie rechtfertigt die Kirche diesen Missbrauch ihrer Privilegien gegenüber all den Kindern und Jugendlichen, die von ihren Mitarbeitenden sexuelle Gewalt erlebten? Wie?
Solange es noch ein eigenes Kirchenrecht gibt, gehört dieses zumindest reformiert. Im Personalrecht und bei Entschädigungen hat das Wohl der von sexueller Gewalt Betroffenen im Mittelpunkt zu stehen, nicht länger die Sorge um die und der Schutz der Täter. Das Kirchenrecht bedarf der Anpassung an eine im 20. Jahrhundert im öffentlichen Recht längst vorgenommene Weichenstellung: Während im Strafrecht der Schuldnachweis gegenüber dem Täter geführt werden muss (im Zweifel für den Angeklagten – in dubio pro reo), geht es im Kindschaftsrecht schon seit den 70er Jahren um das Wohl des Kindes, um einen Opferschutz also, der bei begründetem Verdacht im Zweifel eine Entscheidung für das Kind fordert (in dubio pro infante), wo findet sich diese Orientierung im Kirchenrecht? Wie legitimieren Kirchen die einseitigen Privilegien der Täter, wenn es aus Mangel an Beweisen (wie kann ein Kind oder erwachsener Mensch die erlittenen sexuellen Übergriffe „sicher“ beweisen?) zur Einstellung von Disziplinarverfahren samt anschließender Tilgung aller Hinweise in Personalakten (selbst verordnete Amnesie der Institution bei Wiederholungstaten?) und in der Folge zur Verweigerung von Übernahme der Therapiekosten und Entschädigungszahlungen kommt? Nebenklage, Akteneinsicht, Antrags- und Anwaltsrechte Betroffener in kirchenrechtlichen Verfahren gehören reformiert, wenn nicht gar die ganze Parallelstruktur abgeschafft.
Ermittlungen in den der Kirche gemeldeten Fällen müssen, wenn schon nicht durch den Staat, durch ein externes (!) Team geführt werden, das den Hinweisen fachkundig und ausgestattet mit Zeit, umfassenden Akteneinsichts- und Ermittlungsrechten sowie psychologischem, juristischem, sozialpädagogischem Fachwissen (Kenntnisse über Täterbiographien/Täterstrategien etc.) nachgeht. Die Last der Beweisführung darf nicht länger den Opfern aufgebürdet werden. Sexualisierte Gewalt ist eine Wiederholungstat. Täter haben oft eine Vielzahl von Opfern. Wo aber sind nach dem Hinweis auf eine mögliche Täterschaft die gezielten Aufrufe, die mögliche Betroffene in Schulen, Heimen oder Gemeinden gezielt um Hinweise bitten? Hierfür müssten ja keine Zeiten und Namen genannt werden, um falschen Verdacht und Rufmord zu vermeiden.
Ein letztes Wort zu Prävention. Institutionen, in denen mit Kindern gearbeitet wird, besitzen eine hohe Anziehungskraft für pädosexuell veranlagte Menschen. Hierzu stellte die DPV in ihrer Stellungnahme schon 2010 fest: „Die Struktur solcher Institutionen und die in ihnen herrschenden Verhältnisse haben einen wesentlichen Einfluss darauf, ob diese Menschen ihre Fantasien in Handlungen umsetzen oder sie kontrollieren können. Autoritäre oder geschlossene Strukturen mit einem Mangel an Transparenz und Kontrolle von Macht begünstigen derartige Taten und erschweren auch deren Aufdeckung. Je nach Konstellation sind sie für sadistische, machtorientierte oder für unreife Persönlichkeiten attraktiv. So zieht der Zölibat in der katholischen Kirche auch Persönlichkeiten an, die in ihrer psychosexuellen Entwicklung gehemmt sind, infantile Züge aufweisen und unbewusst hoffen, ihre inneren Konflikte und sexuellen Beziehungsängste durch die erzwungene Ehelosigkeit bewältigen zu können. Es wäre jedoch falsch, den Zölibat unmittelbar im Sinne einer kruden Vorstellung von einer Hemmung der sexuellen Triebe für derartige Taten verantwortlich zu machen.“
Die katholische Kirche greift diese Erkenntnisse in der Ausbildung auf. Dies ist gut, aber schließt die angesprochene Struktur der kirchlichen Institutionen nicht ein.
Von Prävention kann ohnehin nicht glaubhaft die Rede sein, solange katholische und evangelische Hochschulen das Fachgebiet Kinderschutz auch und gerade mit dem Fokus auf sexuelle Gewalt gegen Schutzbedürftige nicht als ein Pflichtfach flächendeckend in allen einschlägigen Studiengängen ausweisen. Wie kann man Prävention „wollen“, solange (sexuelle) Gewalt in vielen Studiengängen der Theologie, Sozialen Arbeit, Pädagogik, Pflege, Theologie etc. ausgeblendet wird? Die Kirchen können und müssen den staatlichen Hochschulen hier vorangehen und den Fachdiskurs anstoßen. Nur wenn eine Fachkraft gut ausgebildet und handlungsfähig ist, kann sie Kinder schützen.
Folgen also den Worten auch Taten oder den Taten nur Worte? Es liegt also in der Verantwortung von christlichen Glaubensgemeinschaften, einen Ort zu schaffen, an dem Kinder heranwachsen können, zu achtsamen Menschen, ohne auf dem Weg dorthin verloren zu gehen.
Rainer Rettinger
Geschäftsführung Deutscher Kinderverein e. V.
März 2021