Es sind die Blicke, die sich einem ins Gedächtnis bringen. Die Blicke, der Kinder, denen man helfen kann, aber vor allem die Blicke der Kinder, bei denen man zu spät erfahren hat, was passiert ist oder bei denen zu lange weggesehen wurde.
“Augen auf bei der Berufswahl“ sage ich an dieser Stelle immer ganz gerne, denn wer im Allgemeinen Sozialen Dienst eines Jugendamtes arbeitet, der muss hart im Nehmen sein. Und das nicht nur wegen der Erlebnisse, von denen man liest und hört, sondern auch von den Anfeindungen, die man zu hören bekommt – entweder klaut man Kinder aus unbescholtenen Familien oder man hat „faul auf der Haut gelegen“, während irgendwo ein Kind missbraucht oder misshandelt, wenn nicht gar getötet wurde.
Dass die meisten der „Kritiker“ – und damit möchte ich den Facebook-Wutbürger eher ausschließen – diesen Job gar nicht machen möchten, wird gerne vergessen. Aber daraus eine Wagenburgmentalität zu konstruieren, halte ich für falsch. Wichtiger wäre es, sich dem, was nicht gut läuft, zu stellen. Ja, es passieren Fehler in den Jugendämtern (und auch bei Familiengerichten); ja, diese zerstören Kinderseelen und kosten manchmal sogar Leben – und ja, jeder dieser Fehler ist furchtbar und darf nicht passieren. Aber genauso ist es die Wahrheit, dass sich solche Fehler – oder vielleicht eher Fehleinschätzungen – niemals verhindern lassen werden. Niemand kann hellsehen oder schaut völlig objektiv auf einen Sachverhalt. Das ist furchtbar. Was man aber erreichen kann ist, man kann versuchen, dass diese Fehleinschätzungen nicht Überhand nehmen und die große Ausnahme bleiben.
Aber wie man das erreichen kann? Klare Richtlinien? Weniger Ermessensspielraum? Ich denke, dass das nicht die Lösung sein kann. Denn strikte Vorgaben führen grundsätzlich zu Automatismen und werden dem einzelnen Menschen nicht gerecht. Wichtig wäre es, dass auch die Jugendämter und die Fachkräfte ehrlich sind und nicht mit sozialpädagogischen Wischiwaschi-Gerede die wirklichen Probleme wegzureden versuchen. Aus meiner Sicht gibt es einige Hauptfaktoren, dass solche Fehleinschätzungen passieren:
- Es kann nicht sein, was nicht sein darf: Viele Menschen in der Sozialen Arbeit kommen aus gesunden Mittelstandsfamilien mit entsprechendem Wertekanon. Für sie ist es unvorstellbar, dass es Gewalt und Missbrauch in allen gesellschaftlichen Schichten gibt. Und noch unvorstellbarer ist, dass auch Frauen Täter werden können.
- Fehlendes Wissen: Spuren von Misshandlungen oder Missbrauch werden nicht erkannt; Wissen über Trauma, über dissoziative Störungen oder andere Verhaltensweisen belasteter Kinder werden im Studium nahezu gar nicht vermittelt. Das bedeutet, dass grundlegendes Wissen über eben jene Gebiete fehlt: traumatische Reaktionen werden nicht erkannt, Täter-Strategien nicht gesehen.
- Fehlende Erfahrung: Oft starten junge Menschen, die gerade ihr Studium beendet haben, in den Jugendämtern voller Enthusiasmus. Ältere Fachkräfte gibt es fast gar nicht, obwohl Lebens- und Berufserfahrung in dem Job von Vorteil wären. Aber viele Ältere haben auf den Stress und die Verantwortung überhaupt keine Lust. Also bleibt den Gemeinden häufig gar nichts anderes übrig, als junge Leute einzustellen, weil es sonst gar keine Bewerber gibt. Leider sind viele dieser Berufseinsteiger aber eben nicht genügend vorbereitet oder persönlich gefestigt für diese Aufgabe. Pauschalisieren will ich dies aber auf keinen Fall. Es gibt auch junge Kräfte, die mit einem entsprechendem Kinderschutz-Wissen ihren Job antreten und gut machen. Aber es sind zu wenige!
- Fehlende Haltung: Wofür stehe ich in diesem Job? Diese Frage läuft nach meinen Beobachtungen sehr oft darauf hinaus: „Ich weiß, wie es richtig geht und zeige den Eltern das jetzt mal“. Schnell entsteht ein Krieg zwischen ASD und Familien. Mit der richtigen Haltung (Respekt, Transparenz, Fallwissen…) kann ich auch in Kinderschutzfällen den Eltern auf Augenhöhe begegnen und trotzdem im Fall der Fälle Maßnahmen durchsetzen.
- Fehlender Mut: Wer im ASD arbeitet, braucht Mut. Mut, Entscheidungen zu treffen. Mut, auch in schwierigen Situationen auch offen mit Menschen zu sprechen. Mut, sich darüber klar zu sein, dass Fehler passieren können und werden. Wer sich bei der täglichen Arbeit bemüht, immer „bloß den Arsch an der Wand“ zu haben, ist viel zu sehr mit sich beschäftigt und verliert den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Menschen, mit denen man arbeitet.
- Fehlende Rechtskenntnis: Für viele Sozialarbeiter (auch in anderen Feldern) scheinen Recht und Gesetz manchmal nur bloße Empfehlungen zu sein. Arbeit mit Gesetzen scheint in diesem Berufsfeld eher ein großes Übel als unbedingte Voraussetzung zu sein.
- Fehlende Reflexion: Gerade in jungen Jahren haben nicht viele Fachkräfte den Willen und die Fähigkeit, sich als Teil der Lösung oder auch des Problems zu sehen. Es sind immer die anderen.
- Fehlende Klarheit: Es gibt junge Menschen, die durch ihre Erlebnisse so belastet sind, dass es schwer bis unmöglich ist, ihnen zu helfen. Das muss man anerkennen, ohne diese jungen Menschen aufzugeben. Hilflosigkeit und Frustration aushalten sowie damit leben zu können, dass die meisten Menschen, mit denen man zu tun hat, froh sind, wenn sie einen wieder los sind – das zu können, ist enorm wichtig.Die Liste ließe sich fortsetzen. Das Problem: Nur weniges davon kann man vermitteln. Es muss vorgelebt werden, um nach und nach weitere Fachkräfte davon zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen. Manchmal ist der Einzige oft nur der Erste. Der reflexhafte Ruf nach mehr Personal ändert meiner Meinung nach nichts. Erstens gibt es nicht viele gute Fachkräfte, die zum ASD wollen, und zum anderen sind die, die kommen, oft wie oben beschrieben häufig jung und tappen auch in die dargestellten „Fallen“. Eine Fallobergrenze bringt meines Erachtens nicht viel. Denn es hängt von Fähigkeiten und Haltung des Einzelnen ab, wie genau er arbeiten kann und wie intensiv er in die Familien schauen kann. Mancher hat ein Problem, bei 30 Familien alles auseinander zu halten und einen entsprechend klaren Blick zu haben, der andere schafft das noch locker bei 50 Familien.Ich liebe meinen Beruf, arbeite gerne mit den Familien und habe es nie bereut, diesen Weg zu gehen. Auch wenn ich manchmal anders arbeite als viele andere, bin ich nicht der bessere Sozialarbeiter. Auch ich habe schon ein Kind im Dienst verloren. Das ist sehr, sehr traurig, aber ich habe es nicht getötet. Das war jemand anderes. Ich habe viele freiwillige Fort- und Weiterbildungen gemacht, aber ich bin und bleibe ein Mensch. Und die machen Fehler – das ist in unserem Job wesentlich schlimmer und beschämender als in anderen. Passieren werden sie aber immer. Aber sie minimieren, das können wir.