Der kleine Fabio hatte Hämatome, die Außenstehende wohl auch registriert haben. Wieso sind sie nicht eingeschritten?

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Wir haben ja als Deutscher Kinderverein auch Strafanzeige im Fall Fabio gestellt. Die Staatsanwaltschaft aber hat das Verfahren eingestellt. Diese Nachricht kam für uns überraschend schnell. Man argumentiert, dass die „gemeldeten Hämatome, die nicht automatisch einen sicheren Schluss auf eine stattgefundene Misshandlung zuließen, nicht als im strafrechtlichen Sinne pflichtwidrig anzusehen sind, nämlich erst am 6.03.2020 in Kontakt mit der Kindesmutter und dem Kind zu treten“, so der Original-Wortlaut der Staatsanwaltschaft. Der Bewertung, ob das Handeln des Jugendamtes fachgerecht war, legt die Staatsanwaltschaft anscheinend ihre eigene strafrechtliche Verfahrenslogik zugrunde: in dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten. Aber der Auftrag an ein Jugendamt oder Familiengericht lautet: in dubio pro infante – Im Zweifel für das Kind. Dieser Auftrag verpflichtet das Jugendamt zu sofortigen und umfassenden Ermittlungen, wenn eine körperliche Misshandlung im Raum steht. Hierzu gehört u.a. die fachmedizinische Untersuchung des Körperzustandes dieses Kindes, die Gelegenheit für Kinder sich vertraulich, also ohne Beisein der möglicherweise misshandelnden Eltern zu äußern. Ist mit Fabio nach der Schädelverletzung seines Bruders allein gesprochen worden? Welche Beziehung hatte er zu den Erwachsenen, mit denen er in der Zweizimmerwohnung auf engstem Raum leben musste. Weshalb wurde nicht wenigstens sofort dafür gesorgt, dass der Kindergarten den Jungen täglich weiter sieht? Der Schutzauftrag des Jugendamtes umfasst eben nicht nur ein Handeln bei erwiesener Misshandlung, sondern es geht vor allem um die Frage welche Risiken für das Kind im Eltern-Kind-Verhältnis zu erkennen waren! Welche Erkenntnisse hatte das Jugendamt, welche Hilfen wurden angeboten, welche Schutzmaßnahmen eingeleitet? Kurzum: Es stellen sich viele ungeklärte Fragen. Schon ab 2016 gab es Anzeigen bei der Polizei wegen Ruhestörung, diese schaltete das Jugendamt ein. Weshalb? Gab es Hinweise auf häusliche Gewalt oder häufiges Weinen der Kinder? Eine der essentiellen Fragen aber bleibt: Weshalb wurde Fabio nicht sofort besucht und auch der Kinderschutzmedizin vorgestellt, obwohl sein Bruder nicht einmal zwei Wochen zuvor mit Misshandlungsverdacht im Krankenhaus war. Weshalb wurde nicht sichergestellt, dass er täglich zum Kindergarten gebracht wird – auch und gerade in der Notbetreuung während der Pandemie?

Gibt es Zahlen, wie viele Kinder in Deutschland zu Hause misshandelt werden?

2019 wurden polizeilich 4.055 Fälle angezeigt, d.h. dass täglich 11 Kinder krankenhausreif geschlagen werden. Wir wissen aber auch: nicht jedes verletzte Kind wird zum Krankenhaus gebracht, nicht jeder dort behandelte Fall wird angezeigt, es gibt keine Meldepflicht an die Polizei. Jeden dritten Tag stirbt ein Kind an den Folgen von körperlicher Misshandlung. Auch hier ist das Dunkelfeld ist um ein Vielfaches größer. Auf jedes getötete Kind kommt wohl noch eines, bei dem es gar nicht erkannt wurde. Und es gibt Studien, nach denen auf jeden erfassten Fall von Misshandlungen noch bis zu 50 unerkannte Fälle kommen. Andere Studien sprechen von bis zu 400 nicht gemeldeten Misshandlungen pro bekanntem Fall, so die Rechtsmediziner der Charité Berlin, Prof. Dr. Michael Tsokos und Dr. Saskia Etzold. Das heißt, dass der Schutz von Kindern eine große Aufgabe ist, die uns alle beschäftigen muss, die Zivilgesellschaft, die Politik, die Familiengerichtsbarkeit etc.

In Mönchengladbach gab es drei Fälle, in denen die Mütter zugesehen haben, wie ihre Kinder totgeprügelt wurden. Warum sind sie nicht eingeschritten? Wie kann man sich das erklären?

Mütter können Mittäterinnen sein, teils üben sie selbst schwere und auch sadistische Gewalt gegen Kinder aus. In den von Ihnen angesprochenen Fällen müsste man mehr über die Beziehungen der Familienmitglieder, aber auch über die Haltung und das Vorgehen der zuständigen Institutionen wissen. Manche Mütter schützen ihre Kinder nicht, weil sie selbst Angst vor dem Täter haben. Manche nehmen die Sichtweise der Täter ein, rechtfertigen deren Handeln oder erteilen regelrecht Aufträge. Nicht wenige in ihrer Kindheit misshandelte Frauen lassen sich auf Beziehungen mit gewalttätigen Partnern ein, in der Hoffnung auf einen besseren Ausgang. Mütter schreiten nicht ein, die Gesellschaft schreitet nicht ein, der Staat schreitet nicht ein – Kindesmisshandlung tradiert sich über Generationen, wir brauchen daher eine klare Haltung nicht nur von Müttern, sondern auch von Gesellschaft und Staat.

Reden wir über Kindesmissbrauch, also sexuelle Gewalt. Haben Sie das Gefühl oder die Gewissheit, dass Kindesmissbrauch zunimmt? Oder schauen wir genauer hin?

Nein, es wird nur das Hellfeld sichtbar. Wir wissen ja mittlerweile, dass in jeder Schulklasse 1 – 2 Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erleben oder durchlebt haben. Sie können auch davon ausgehen, dass in Deutschland auch weiterhin tausende Filme mit Missbrauchs-abbildungen produziert werden und es ist kaum vorstellbar, dass dies ohne Wissen der Personenberechtigten geschehen kann. Das zeigen Fälle wie in Staufen, Lügde, Münster, Bergisch-Gladbach. Es sind Väter, Mütter, Stiefeltern etc. involviert.

Gibt es typische Warnsignale, anhand derer Außenstehende Kindesmissbrauch – auch in der Familie – erkennen können?

Die Anzeichen sind leider oft nicht eindeutig. Jüngere Kinder erzählen teils von ihren Erlebnissen. Viele Kinder schweigen, aber verändern ihr Verhalten, wirken sehr traurig oder aggressiv, ziehen sich zurück oder verarbeiten die sexuelle Gewalt im freudlosen Nachspiel des Erlebten. Dauerhaft missbrauchte Kinder entwickeln die Fähigkeit, nur noch wenig zu fühlen, sie steigen teils ungewollt aus ihrem Körper aus. Auch eine altersuntypische Sexualsprache oder Doktorspiele mit den bei Erwachsenen üblichen Sexualpraktiken sollten Anlass sein, genau hinzuschauen. Wichtig zu wissen, Täter*innen planen solche Taten von langer Hand, gehen etwa gezielte Beziehungen mit Alleinerziehenden ein, arbeiten im pädagogischen Bereich oder im Ehrenamt im Sport oder Gemeinden. Teils gehen die Täter*innen auffällig enge Beziehungen mit dem Kind ein, isolieren es von anderen Kontakten und betonen wie ‚phantasiebegabt‘ das Kind sei.

Steigern Corona und der Lockdown die Aggressivität der Menschen?

Ja, wir hatten während des Lockdowns große und berechtigte Sorgen, denn hilfreiche Alltagsroutinen entfielen in der Quarantäne, die Familie saß auf oft engem Raum ohne Privatsphäre zusammen. Noch dazu erhöhten die Furcht vor Krankheit oder auch tatsächliche Erkrankungen und Todesfälle den seelischen Stress.

Der Besuch der Kita oder Schule, sonst in der Lage, Eltern und Kinder zu entlasten, entfiel wochenlang. Der Spielplatz war zu, die Nachbarn gingen auf Distanz, das Kind war mit den Eltern oder auch nur einem Elternteil allein. Denken Sie an die Kinder suchtkranker Eltern, Kinder, die normalerweise durch die Schule, Freunde, Lehrerinnen und Lehrer, durch Mittagsbetreuung im Hort noch etwas Halt von der Außenwelt bekommen. Nun war so ein Kind mit den Eltern allein. Keiner ist in der Nähe, der die Notlage der Mutter oder des Vaters, der Eltern im Blick hatte, keiner, der die Not des Kindes sah – und damit hatten wir eine besorgniserregende Situation.

Haben Sie als Kinderschützer eine Steigerung der Fallzahlen in der Pandemiezeit verzeichnet?

Wir gehen von einer Steigerung aus, es scheint aber, dass zunächst eher weniger Fälle bekannt wurden. Die helfenden Instanzen wie Jugendämter, Gewaltschutzambulanzen, Erziehungshilfen, Schulen und Kitas waren ja selbst im Krisenmodus. Es fehlt in Deutschland an belastbarer Forschung der Hochschulen zum Kinderschutz, insbesondere zum Dunkelfeld, das macht seriöse Aussagen zur Situation misshandelter Kinder schwer bis unmöglich. Die endgültigen Zahlen aber werden wir erst 2021 erfahren.

Was mache ich, wenn ich einen Verdacht auf Kindesmisshandlung habe? 

Wenn man Zweifel am Wohl eines Kindes in seiner Umgebung hat, sollte bei körperlichen Verletzungen die Polizei oder Kinderschutzambulanzen informieren. Bei seelischen oder sexuellen Misshandlungen das Jugendamt, das Familiengericht oder gerade bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch eine spezialisierte Fachberatungsstelle. All das geht auch anonym. Zeigen Sie bitte Zivilcourage.

Wie spreche ich mit Kindern über das Thema Missbrauch?

Die Mehrheit der Täter und Täterinnen sind keine Fremden, es sind ältere Jugendliche, Verwandte und Bekannte. Täter gehen geschickt und manipulativ vor, sie wählen die Kinder aus, verstricken sie und bringen sie zum Schweigen. Bei jüngeren Kindern genügt der Hinweis, dass es Erwachsene gibt, die Kinder an den Po oder in die Hose fassen und jedes Kind ein Recht hat, sich Hilfe zu holen. Hierzu gibt es Bilderbücher, etwa von Zartbitter (www.zartbitter.de). Machen Sie deutlich, dass ein Kind jede Berührung zurückweisen darf, die es nicht mag. Erzählen Sie aber auch, von Kindern, die es nicht hinbekommen, gleich ‚Nein‘ zu sagen und wie mutig Sie es finden, wenn so ein Kind oder eines seiner Freunde sich anvertraut und Hilfe sucht.

Haben Sie das Gefühl, dass Jugendämter Kinder zu spät aus Familien nehmen?

Was uns Sorgen macht ist, dass man Kindern nicht glaubt. Man erlebt oft, dass man sich mehr mit den Schicksalen der Eltern auseinandersetzt und dadurch das Kind vollkommen aus dem Blick gerät, ja gar nicht mehr gesehen wird. Uns macht Sorge, dass das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen schwerer wiegen soll als das Recht der Kinder auf ein seelisch und körperlich ungefährdetes Aufwachsen. Uns macht Sorge, wenn Meldungen von Kindeswohlgefährdungen beim zuständigen Jugendamt nicht nachgegangen oder zu spät reagiert wird und selbst Fachleute, darunter Familienrichter, Misshandlungen, schwere emotionale Vernachlässigung verleugnen oder gar bagatellisieren. Uns uns macht Sorge, dass fehlende Ausbildung und eine hohe Fallzahl im Jugendamt wie im Familiengericht die umfassende Ermittlung der fachgerechten Einschätzung von Kinderschutzfällen entgegenstehen. Das macht uns große Sorge!

Was würden Sie sich als Kinderschützer für die Zukunft wünschen?

Der Wunschzettel ist lang. Als erstes wünschen wir uns einen kindzentrierten Kinderschutz, die Fähigkeit, sich in die innere Welt eines Kindes hineindenken zu können, ihnen zu glauben und zuzuhören. Dass die Initiativrechte der Kinder umgesetzt werden, wie das Recht auf Information und Beteiligung, auf vertrauliche Beratung in Notsituationen auch ohne Anwesenheit der Eltern oder anderer Personenberechtigten, auf das Recht von Inobhutnahme ohne Angaben von Gründen. Zudem wünschen wir uns einen Rechtsanspruch aller Kinder und Jugendlichen auf regelmäßige persönliche Gespräche in kindgerechter Umgebung mit der fallzuständigen Fachkraft des Jugendamts über ihr Befinden und ihre Wünsche sowie mögliche Gefährdungen. Diese Gespräche sollen sobald dies der Entwicklungsstand des Vorschulkindes zulässt (in der Regel ab 3 Jahren) ohne Eltern, Geschwister und die Mitarbeiter von Diensten geführt werden, die Erziehungshilfen erbringen. Wir wünschen uns durch ihr Studium fachlich im Kinderschutz qualifizierte Fachkräfte im Jugendamt und im Familiengericht und flächendeckend therapeutische Übergangsheime, die betroffene Kinder und Eltern mit Fachkenntnis und Sorgfalt begleiten, die Entscheidungsträger beraten und helfen, die Weichen im Leben gewaltgeschädigter Kinder zum Guten zu stellen.
Von der Bundespolitik wünschen wir uns, dass der Kinderschutz so entschieden auf die Tagesordnung genommen wird, wie dies in NRW bereits geschieht. Von den Ländern wünschen wir uns die Einsetzung von Kinderschutzbeauftragen mit Schwerpunkt Sexuellem Missbrauch in jedem Bundesland, finanziert (und damit unabhängiger) aus Mitteln des Bundes. Interessen gerade der Schwächsten in der Gesellschaft dürfen nicht weiter übergangen werden. Kinder sind unsere Zukunft.