Bosbach-Kommission legt Zwischenbericht vor
Unvorstellbares Leid und unendliches Versagen: Seit Lügde bemühen sich alle um grundlegende Veränderungen im Kinderschutz. Vom Versager zum Vorreiter? Nach Fehlern will nun der Landkreis Hameln-Pyrmont Vorreiter beim Kinderschutz werden und stellte am 16. Mai 2019 erste Ergebnisse eines Präventionskonzeptes vor. In Niedersachsen soll der Landespräventionsrat innerhalb eines halben Jahres die Verwaltungsstrukturen und Abläufe der staatlichen Jugendhilfe aufarbeiten. Ob dies in solch kurzer Zeit möglich ist, ist mehr als fraglich. Sozialministerin Carola Reimann aus Niedersachsen plant unter dem Arbeitstitel „Kinderschutz geht jede(n) an“ eine Kampagne mit dem Ziel, Bürgerinnen und Bürger gezielt für das Thema „Sexueller Missbrauch“ zu sensibilisieren.
Doch damit nicht genug. In Nordrhein-Westfalen präsentierte die Bosbach-Kommission Ende Mai auf zwölf Seiten einen völlig unerwarteten Zwischenbericht zum Schutz vor Kindesmissbrauch. Fazit des Berichts: „Erfolgreicher Kinderschutz kann nur sichergestellt werden, wenn alle Beteiligten, Behörden, Institutionen und Verbände Hand in Hand arbeiten und sich als Bestandteil eines Gesamtsystems verstehen.“ Ein richtiger Anspruch im Kinderschutz, doch weshalb hält die Kommission sich nicht an ihre eigenen Empfehlungen, bevor sie mit Handlungsempfehlungen an die Öffentlichkeit geht? In der Kommission selbst nämlich findet sich kein einziger Kinderschutz-Experte.
Dieses Manko zeigt sich im Bericht: „Den Vormundschaftsgerichten kommt bei der Wahrung der Kinderschutzinteressen eine besonders wichtige Funktion zu. Entscheidungen sind nicht nur nach Aktenlage, sondern unter Einbeziehung aller individuellen Umstände des Falles zu treffen. Betroffene Institutionen und Personen sind anzuhören, um rechtssichere Entscheidungen treffen zu können.“ Dass diese zu ganz anderen Zwecken eingesetzte Kommission vom „Vormundschaftsgericht“ schreibt, zeigt, wie wenig Kenntnis zum Kinderschutz vorhanden ist. Die Zuständigkeit für den zivilrechtlichen Kinderschutz liegt nämlich schon seit einem ganzen Jahrzehnt nicht mehr beim Vormundschaftsgericht, sondern beim Familiengericht, das laut Amtsermittlungsgrundsatz sowieso alle notwendigen Ermittlungen anstellen muss – eine bessere Ausbildung und geringere Fallbelastung vorausgesetzt. Ermittlungs- und Anhörungspflichten gegenüber dem Jugendamt (Verfahrensbeteiligter), dem Kind (§ 159 FamFG), den Sorgeberechtigten und anderen für die Einschätzung der Gefährdung und des Hilfebedarfs wichtigen Personen sind klar geregelt.
Die Landesregierungen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen wären gut beraten, in enger Zusammenarbeit mit allen Ministerien eine intensiv arbeitende multiprofessionelle Gruppe von Experten aus Praxis und Wissenschaft zur Politikberatung einzusetzen, so Rainer Rettinger, Geschäftsführer Deutscher Kinderverein e.V. Diesen Ansatz unterstreicht auch Prof. Dr. Maud Zitelmann, Botschafterin des Deutschen Kindervereins und Professorin für Jugendhilfe und Kinderschutz in Frankfurt am Main. Aus Lügde lernen, das erfordert eine unabhängige Untersuchung des Geschehen, aber auch eine grundlegende Revision, Verbesserung und Neuausrichtung des Kinderschutzes, orientiert an den Rechten, Bedürfnissen und Belastungen misshandelter und sexuell missbrauchter Kinder. „Solch eine Arbeit ist nicht in wenigen Arbeitstreffen zu leisten“, sagt Zitelmann. „Im Kinderschutz ausgewiesene Experten aus dem Bereich der Jugendhilfe, des medizinischen Kinderschutzes, der Familiengerichtsbarkeit und der Strafverfol¬gungs¬behör¬den müssten in einer stabil arbeitenden Gruppe zusammenfinden. Dies braucht eine Freistellung von anderen Aufgaben und den organisatorischen Rahmen, sowie die Aufhebung von Vorgaben, die Denk- und Sprechverbote bewirken könnten. Und es braucht Fürsprecher, damit das Erleben und die Sicht der Kinder zur Sprache kommen, etwa durch erfahrene Kindertherapeuten, Fachberater oder Opferanwälte sowie durch erwachsene Betroffene, ähnlich der Aufarbeitungskommission der Bundesregie-rung.“ Einzelkonzepte und Aktionsmus helfen den Kindern nicht, die so Leidvolles haben erfahren müssen – und sie verhindern keine Wiederholung. Wir sind den Kindern jetzt und in der Zukunft eine gründlichere Aufarbeitung von Lügde schuldig.