Hatte erst im vergangenen Jahr der Missbrauchsskandal von Staufen Schwächen im System des deutschen Kinderschutzes offengelegt, müssen wir mit Lügde erneut erleben, wie das Versagen staatlicher Institutionen über Jahre das unvorstellbare Leid zahlreicher Kinder ermöglicht. Das gemeinschaftliche Versagen aller beteiligten Institutionen, muss kritisch und unabhängig aufgearbeitet werden. Strukturen, die diese Katastrophe zugelassen haben müssen so geändert werden, dass der Staat seinem Auftrag zum Kinderschutz gerecht wird.
Der Deutsche Kinderverein e.V. unterstreicht die Forderung nach dem Einsatz einer unabhängigen und gemeinschaftlichen Enquete-Kommission in NRW und Niedersachsen. Die Enquete-Kommission sollte die Geschehnisse, insbesondere das Vorgehen der Behörden in Lügde und Hameln aufarbeiten, beide Bundesländer (Niedersachsen und NRW) im Blick haben und unter Mitarbeit von unabhängigen Experten aus der Praxis des Kinderschutzes und aus der Wissenschaft erfolgen. Bei der Zusammensetzung ist zu bedenken, dass Wissenschaftler/innen oder Institute nicht anderweitig von der Auftragsforschung des Bundes und der Länder abhängen, damit eine kritische und unabhängige Aufarbeitung staatlicher Defizite sichergestellt wird. Der Handlungsauftrag muss einerseits die Netzwerke der Täter, sie begünstigende staatliche Strukturen und hieraus ableitbare Maßnahmen zur Prävention und Intervention durch staatliche Stellen und die Gesellschaft umfassen. Zugleich muss das Schutz- und Hilfesystem für die betroffenen Kinder kritisch untersucht, akuter Unterstützungsbedarf aufgezeigt und eine Mitwirkung der Kinder und ihrer Familien an der Aufarbeitung gewährleistet werden. Vornehmliche Aufgabe sollte es sein, die staatlich verantworteten Defizite im Fall Lügde aufzuzeigen.
Der Deutsche Kinderverein setzt sich zudem für die Einsetzung eines unabhängigen Kinderschutz-Beauftragten mit Schwerpunkt „Sexueller Missbrauch“ in beiden Bundesländern ein. Der Beauftragte und ein ihm zugeordnetes und gut ausgestattetes Fachteam sollte die Aus-und Fortbildung aller Berufsgruppen, ihre Ausstattung sowie bestehende Strukturen und Verfahren im Kinderschutz kritisch im Blick haben, zur Anlaufstelle für Beschwerden und Whistleblower werden und Ombudstrukturen in der Jugendhilfe schaffen und befördern helfen. Er sollte der Landesregierung im Rahmen einer regelmäßigen durch ihn veranlassten Evaluation des Kinderschutzes und einer Berichterstattung an den Landtag Hinweise geben, wie der Kinderschutz grundlegend verbessert und das Dunkelfeld minimiert werden kann. Der Beauftragte für Kinderschutz mit Schwerpunkt „Sexueller Missbrauch“ sollte nicht in ein einzelnes Ministerium eingebunden sein, sondern unabhängig agieren, die Amtszeit muss entsprechend langfristig ausgestaltet sein. Ergänzend empfiehlt sich die Benennung und Ausstattung von Verantwortlichen für den Kinderschutz in allen einschlägigen Ministerien (Inneres, Bildung, Soziales, Justiz), so dass deren Kooperation untereinander und mit dem Beauftragten für Kinderschutz und seinem Fachteam möglich wird.
Kinder, die psychische oder physische Gewalt, Vernachlässigung und sexuelle Gewalt erleben, haben ein Recht darauf, dass ihnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geholfen wird. Ein Schwerpunkt des Kinderschutz-Beauftragten sollte der fachspezifisch besonders herausfordernde Bereich des sexuellen Missbrauchs sein. „Mit dem Fall Lügde stellen sich so viele Fragen nach wirksamen Konzepten des Kinderschutzes in Schulen, Sportvereinen, Kitas etc., Fragen nach einer Fachaufsicht von Jugendämtern und einer bislang nachweislich unzureichenden Qualifikationen derer, die sich für den Schutz von Kindern einsetzen“, so Rainer Rettinger. „Wir müssen laut sein, nicht still, wenn es um den Schutz von Kindern geht.