Das Minimal-Budget der Kampagne gegen Schütteltrauma bei Säuglingen ist ein Armutszeugnis für die Regierung
Von Rainer Rettinger
Schon Rio Reiser, der König von Deutschland, wollte die Welt verändern. Im Song „Wann“ findet man die markanten Sätze: „Wann, wenn nicht jetzt. Wo, wenn nicht hier. Wer, wenn nicht wir.“ Mit diesen Sätzen und leuchtenden Plakaten startet die steuergeldfinanzierte Kampagne des Bundesfamilienministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Verantwortlich ist die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig. Fördersumme gesamt für das Jahr 2017: 100 Millionen Euro. Kosten für die Werbekampagne: 4,5 Millionen Euro. Gefördert werden mit diesem Geld Projekte gegen Rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und Gewalt. Experten wie Forsa-Chef Manfred Güllner und Kommunikationsfachmann Rupert Ahrens kritisieren diese Kampagne mit starken Worten wie “Verschwendung öffentlicher Gelder“, „kompletter Unsinn“ oder „unklar, wozu diese Plakate auffordern“ (Die Welt vom 7.05.2017).
„Dieses Plakat wird nichts ändern! Aber du kannst es“, lautet die Headline auf einer Litfaßsäule, irgendwo im Regierungsviertel. Um es vorweg zu sagen: Es wird sich voraussichtlich gar nichts ändern durch diese Kampagne. Stefan Wegner, Partner bei der verantwortlichen Agentur Scholz & Friends erklärt dazu in einem Interview mit dem Fachblatt HORIZONT, es handle sich um eine „Hintern-hoch-Kampagne“. Demokratie sei schließlich kein Produkt, dass man kauft wie einen Joghurt, sondern hänge vom Engagement eines jeden Einzelnen ab. Aber schafft es ein Plakat mit der Headline „Die U-Bahn kennt nur eine Richtung. Aber deine Möglichkeiten sind grenzenlos“ mich zivilgesellschaftlich zu engagieren? Animiert mich das, die Webseite von „Demokratie leben“ zu besuchen? Wohl kaum. Wenn doch, erfährt man im „Engagement-Check“, ob man ein Alleindenker, oder Teamplayer ist. Ist man dann motiviert, kann man, so liest man es auf der Webseite, „Zeichen setzen und Zeilen senden“, sprich einen Leserkommentar verfassen und sich am öffentlichen Dialog beteiligen. Zu Recht kritisiert der Bund der Steuerzahler immer wieder, dass Millionen Euro jedes Jahr verschwendet werden. Darunter fallen auch sinnleere Kampagnen von Ministerien, so wie diese.
Doch es gibt auch gute Nachrichten: In den Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2017 wurde ein Budget für eine Aufklärungskampagne zum Thema Schütteltrauma freigegeben, einer leider häufigen und extrem schädigenden Methode der Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern. Die schlechte Nachricht: Nur 800.000 Euro wurden dafür an Mitteln bereitgestellt. Eingesetzt hat sich dafür die CDU-Politikerin Christina Schwarzer aus Berlin-Neukölln. Allein in Berlin und Brandenburg sind seit Anfang des Jahres rund 13 Fälle von Schütteltrauma bekannt geworden, drei Säuglinge verstarben. Rund 200 Säuglinge im Jahr erleiden nach Schätzungen von Experten in Deutschland durch Schütteltraumata Hirnblutungen, Epilepsie, lebenslange Behinderungen. Mehr als ein Fünftel der Kinder stirbt an den Folgen dieser Verletzungen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Es gibt Studien, wonach auf jeden erfassten Fall von Misshandlungen noch bis zu 50 unerkannte Fälle kommen. Andere Studien sprechen von bis zu 400 nicht gemeldeten Misshandlungen pro bekanntem Fall“, so die Rechtsmediziner der Charité Berlin Prof. Dr. Michael Tsokos und Dr. Saskia Etzold.
Vielen Eltern ist es nicht bewusst, wie gefährlich das Schütteln eines Säuglings ist. Dabei zeigt sich diese in Ungeduld, Hilflosigkeit und Aggressivität begangene Handlungsweise keineswegs nur in sozial schwachen Familien, sondern kommt in allen Bildungsschichten vor. Es wird darauf ankommen, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zuständig für die Umsetzung der Kampagne, diese 800 000 Euro einsetzen wird. Man kann nur hoffen, dass das Geld nicht in sinnlosen Plakaten an Hauswänden oder in Arztpraxen verschwindet, wie die oben zitierten. Denn: Um bundesweit und flächendeckend mithilfe dieser Medien Aufmerksamkeit zu erzielen, bräuchte es rund 15 Millionen. Mindestens.
Kinderschutz, so die Journalistin Caroline Fetscher, ist die größte soziale Baustelle. Wie viele engagierte Kinderschützer fordert sie eine landesweite, unverzagte Kampagne zum Schutz vor Gewalt. Vielleicht fehlt hier jedoch dem Ministerium der klare, politische Wille – so ließe sich das minimale Budget der Schütteltrauma-Kampagne erklären. Das staatliche Wächteramt für die Familie, festgelegt im Grundgesetz, hat Geltung. Doch oft bleibt der Staat ein verschlafener Nachtwächter, und der Gewaltschutz gleicht einer Lotterie. Hier ist eine Kita-Erzieherin aufmerksam, dort nicht, hier greift ein Jugendamt sinnvoll ein, dort nicht. Hier tragen Frühe Hilfen mit ihrer Arbeit dazu bei, dass Gefahren für das Wohl des Kindes verhindert werden, dort nicht.
Die Frage ist daher berechtigt: Wann nimmt das Familienministerium endlich genug Geld in Hand und klärt über Misshandlung auf, am Wochenbett, in der Kita, in der Schule? Wenn der politische Wille vorhanden ist, ist es keine Frage des Budgets mehr. Die äußerst zweifelhafte Kampagne „Demokratie leben“ zeigt, dass durchaus Geld vorhanden ist. Doch wohin wandert es? Für Klarheit beim Thema Kinderschutz, das beweist das Minimalbudget der Schütteltrauma-Kampagne, fehlt der politische Wille. Man kann nur hoffen, dass die neue Familienministerin Dr. Katarina Barley die Kampagne hinterfragt und den Mut besitzt angemessene Mittel für eine Kinderschutzkampagne freizusetzen. Prävention beginnt immer mit Information und Kinderschutz lebt nur, wenn wir ihn leben: Politik, Medien, Justiz, Kinderschützer und die breite Gesellschaft. Dafür die Stimme zu erheben ist unser aller Pflicht. Wer, wenn nicht wir?!