Kinderverein kritisiert Ignoranz gegenüber Misshandlungsopfern.
Pures Entsetzen hat die Kriminalstatistik 2015, die kürzlich vom Bundeskriminalamt veröffentlicht wurde, beim Deutschen Kinderverein Essen e.V. ausgelöst. Den aktuellen Zahlen nach wurden im vergangenen Jahr 130 Kinder durch körperliche Misshandlungen getötet – ein Anstieg von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
„Wir hatten eigentlich auf sinkende Zahlen gehofft“, erklärt Rainer Rettinger, Geschäftsführer des Kindervereins. Die tatsächliche Entwicklung sei für die Kinderschützer höchst beunruhigend und stieße zudem in der Politik auf unerträgliche Ignoranz: „Immer wieder drücken Politiker Opfern von Katastrophen oder Anschlägen ihr Mitgefühl aus und zeigen sich bestürzt. Die 130 getöteten Kinder mitten unter uns werden von Bundesregierung und Familienministerium mit keinem Wort, keiner Pressemitteilung erwähnt“, kritisiert Rettinger. „Es ist für uns unverständlich, dass sich die zuständigen Stellen nicht zu dieser traurigen Tatsache äußern.“
Besonders tragisch, stellt der Deutsche Kinderverein heraus, sei die Tatsache, dass 85 der 130 in Deutschland getöteten Kinder jünger als drei Jahre alt waren. Gerade die jüngsten sollten eigentlich durch das Bundeskinderschutzgesetz und die präventiven Maßnahmen der Frühen Hilfen besonders geschützt sein, die Evaluation der Bundesregierung war bisher positiv. „Wir wollen nicht so weit gehen, die Frühen Hilfen für gescheitert zu erklären. Aber die Zahlen sind zu auffällig“, so die Einschätzung Rettingers. Der Kinderverein nimmt die BKA-Statistik daher zum Anlass, seiner grundsätzlichen Forderung noch einmal Nachdruck zu verleihen: Wir brauchen dringend eine Zertifizierung von Jugendämtern und freien Trägern der Jugendarbeit, und wir benötigen eine transparente Aufklärung der Fälle, in denen die Frühen Hilfen gescheitert sind.“
Für die gut 560 Jugendämter und noch mehr freie Träger gebe es keine einheitlichen Standards und keine Kontrollinstanz, kritisiert der Kinderverein unisono mit Kinderärzten und Rechtsmedizinern. „Die Dimension tödlicher Kindesmisshandlungen in Deutschland ist dramatisch. Wer, wie die meisten Familienpolitiker, mit zynischer Verharmlosung dagegen argumentiert, stellt sich mit denjenigen Interessenverbänden auf eine Stufe, die mit dem Leid der geschundenen Kinder Geld verdienen“, so Prof. Dr. Michael Tsokos, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Charité Berlin und Botschafter des Deutschen Kindervereins.Die Zunahme der Misshandlungen zeige, dass die vorhandenen Schutzmechanismen in Deutschland noch nicht wirksam genug greifen. „Diese Nachricht muss nun endlich in der Politik wahrgenommen werden“, sagt Rainer Rettinger. „Wer Kindesmisshandlung wirklich verhindern will, darf sie nicht ignorieren oder gar verschweigen.“